Neurologen
Die Neurologie (von altgriechisch νεῦρον neuron, deutsch ‚Nerv‘, und -logie ‚Lehre‘) ist die Wissenschaft und Lehre vom Nervensystem, seinen Erkrankungen und deren medizinischer Behandlung. Sie stellt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein eigenständiges Teilgebiet der Medizin dar. Die Grenzen zur Psychiatrie und zur Neurochirurgie sind dabei teilweise fließend. Die in der Neurologie wichtigsten Organsysteme sind das Zentralnervensystem (also Gehirn und Rückenmark), seine Umgebungsstrukturen und Blutgefäße. Dazu kommt das periphere Nervensystem und die Muskulatur, einschließlich der Verbindungsstrukturen zwischen beiden. In Deutschland ist die Neurologie um 1845 mit Moritz Heinrich Romberg als ein Teilgebiet aus der Inneren Medizin hervorgegangen. In den USA, in Großbritannien, Russland und anderen Staaten dagegen hatte sich die Neurologie gleich als eigenständiges Fach entwickelt Die Besonderheiten der Anamneseerhebung in der Neurologie ergeben sich aus der Natur der neurologischen Erkrankungen. Bei manchen Erkrankungen liegt der Beginn lange zurück, so dass die Patienten daran keine genaue Erinnerung haben. Dann finden die Patienten häufig nicht die richtigen Worte für die Phänomene, die den Neurologen interessieren. So wird manchmal eine Lähmung mit einer Sensibilitätsstörung verwechselt, eine Koordinationsstörung wird wie eine Lähmung beschrieben und manchmal werden Kopf- und Gesichtsschmerzen verwechselt usw. In solchen Fällen muss der Arzt die Anamnese der Patienten strukturieren. Das heißt, man muss eine Vorstellung von den Beschwerden haben, die der Patient haben könnte und dann genau erfragen, welche Störung vorliegt und die gebildete Hypothese, die Beschreibung des Patienten und die eigene Anschauung und der Befund der körperlichen Untersuchung in Übereinstimmung gebracht werden. Da dies häufig nicht bei dem ersten Gespräch möglich ist, braucht die Neurologie Zeit. Es lohnt sich, Patienten immer wieder nach ihren Beschwerden zu befragen und Angehörige hinzuzuziehen, um das Bild von der Störung des Patienten zu vervollständigen. Manche Anamnesen können vollständig strukturiert werden. Hierzu gehört zum Beispiel die Befragung der Patienten mit Kopfschmerzen und Anfallsleiden. Die neurologische Anamnese dieser Erkrankungen umfasst bei der Epilepsie folgende Aspekte: Beginn der Erkrankung, Vorkommen von Fieberkrämpfen in der Kindheit, Frequenz der Anfälle pro Zeiteinheit (Woche, Monat), tageszeitliche Bindung (Vorkommen zu bestimmten Tageszeiten), auslösende Faktoren, spüren die Patienten, wenn ein Anfall kommt (Aura), wie lange dauert der Anfall, sind die Patienten bewusstlos, kommen Zungenbiss (an der Spitze der Zunge oder seitlich an der Zunge) vor, wird eingekotet oder eingenässt, führt der Anfall zu Stürzen bei denen sich die Patienten verletzen, gibt es nach dem Anfall besondere Beschwerden (anhaltende Verwirrtheit, Sprachstörung oder ähnliches), wenn Zeugen den Anfall beobachtet haben, können sie die motorischen Entäußerungen beschreiben, sind die Augen bei dem Anfall geöffnet oder geschlossen, wie fallen die Patienten hin, welche Medikamente in welcher Dosis wurden bisher verordnet, haben sie die Anfälle wirksam unterdrückt, wurden Medikamente regelmäßig eingenommen, wurden Medikamentenspiegel bestimmt? Bei den Kopf- und Gesichtschmerzen strukturiert man die Befragung ähnlich, fügt aber noch besondere Fragen zum Schmerzcharakter hinzu. Abschließend ist zu sagen, dass eine Anamneseerhebung sich immer an den Beschwerden des Patienten und an der vermuteten Erkrankung orientiert. Einen Patienten mit der Erstmanifestation einer entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems befragt man anders als einen Patienten mit einer Parkinson-Krankheit. Manchmal sind Fremdanamnesen die einzigen Informationen, die man in einer Notfallsituation erhält. Manche Patienten können überhaupt keine Angaben zu ihrer Erkrankung machen (kleine Kinder, Tiere in der Tierneurologie). Solche Situationen sind immer eine besondere Herausforderung. Die körperliche Untersuchung in der Neurologie Eine vollständige klinisch-neurologische Untersuchung ist zeitaufwendig. Sie erfordert vom Patienten Geduld und aktive Mitarbeit. Diagnostik Hirnnervenfunktion: Es gibt zwölf Hirnnervenpaare. Die Funktion jedes Hirnnerven kann in einer neurologischen Untersuchung geprüft werden. Da dies sehr aufwändig ist, werden Hirnnerven meist nur „orientierend“ untersucht. Das heißt, man macht eine unvollständige Untersuchung unter der Annahme, dass wahrscheinlich alles in Ordnung ist. Wenn jedoch eine Hirnnervenstörung vermutet wird, muss im Zweifelsfall jede einzelne Funktion genau geprüft werden. Die ersten beiden Hirnnerven sind der Nervus olfactorius für den Geruchssinn und der Nervus opticus für den Sehsinn. Das Riechen wird mit Riechstoffen geprüft (z. B. mit Kaffeepulver) und das Gesichtsfeld mittels der sogenannten Fingerperimetrie. Die Hirnnerven III, IV und VI steuern die Bewegungen der Augen (Bewegung eines Fingers des Arztes verfolgen). Der fünfte Hirnnerv ist der Nervus trigeminus. Er versorgt sensibel das Gesicht und motorisch die Kaumuskulatur. Der Nervus facialis ist der siebte Hirnnerv. Er versorgt motorisch die mimische Muskulatur. Der achte Hirnnerv ist für Gehör- und Gleichgewichtsorgan zuständig. Hier kommt der Stimmgabeltest zur Anwendung. Den Gleichgewichtssinn prüft man sinnvollerweise nur, wenn er gestört ist. Die Patienten haben dann ein Schwindelgefühl. Zu diesem Zweck gibt es spezielle Methoden, mit denen man Schwindel provozieren kann. Der neunte Hirnnerv ist der Nervus glossopharyngeus. Er hilft beim Schlucken und vermittelt auch den Geschmack im hinteren Zungendrittel (dort schmeckt man bitter). Der zehnte Hirnnerv ist der Nervus vagus, er vermittelt die vegetative parasympathische Innervation der inneren Organe. Er versorgt sensorisch außerdem die Ohrmuschel und motorisch das Gaumensegel. Der elfte Hirnnerv steuert einen Teil der Nackenmuskulatur und der zwölfte Hirnnerv (Nervus hypoglossus) bewegt die Zunge. Motorik: Die Motorik wird in verschiedenen Aspekten untersucht. Es kann mit verschiedenen Methoden die Kraft jeder Muskelgruppe und teilweise auch die von vielen einzelnen Muskeln geprüft werden. Zur Prinziperläuterung ein Beispiel: Die Bewegung der Hand wird durch drei verschiedene Nerven ermöglicht: Nervus radialis, Nervus ulnaris und Nervus medianus. Der Ausfall eines der drei Nerven führt zu charakteristischen Veränderungen: Störungen der Sensibilität, Beeinträchtigung der Kraft, langfristig eine Verschmächtigung der Muskulatur (Muskelatrophie) und Abschwächung der jeweiligen Reflexe. Im Falle des Nervus medianus (etwa durch eine Verletzung im Bereich des Ellenbogens), kann die Funktion des Nerven beeinträchtigt werden. Da der Medianus die Beugemuskulatur für Daumen, Zeige- und Mittelfinger versorgt, wird die Hand des Patienten beim Faustschluss keine volle Kraft entwickeln können. Das Öffnen des Drehverschlusses einer Flasche mit der betreffenden Hand ist nicht möglich. Die Muskulatur des Daumenballens wird mit der Zeit zurückgebildet. Reflexe: Bei einer neurologischen Untersuchung können etwa zehn so genannte Muskeldehnungsreflexe geprüft werden. An dieser Stelle wird zur Erläuterung nur ein einziger dieser Reflexe kurz erklärt werden. Allgemein bekannt ist der Patellarsehnenreflex: Man schlägt mit einem Reflexhammer leicht auf die Sehne, die unterhalb der Kniescheibe zur vorderen Seite des Schienbeins führt. Vorausgesetzt das zu untersuchende Bein ist so gelagert, dass der Unterschenkel frei schwingen kann, wird die Auslösung des Reflexes dazu führen, dass das Bein im Knie gestreckt wird: Der Unterschenkel schwingt nach vorne (das ist die Reflexantwort). Das Prinzip ist dabei, dass durch den Schlag auf die Sehne der dazugehörige Muskel (Musculus quadriceps femoris) kurz gedehnt wird. Die den Muskel versorgenden Nerven treten im Bereich der Lendenwirbelsäule (L3, 4) aus dem Rückenmarkskanal. Über einen Reflexbogen wird die Reflexantwort eingeleitet. Wenn nun aufgrund einer Gewebsveränderung im Bereich der Nervenaustrittsstellen der entsprechenden Lendenwirbelkörper Teile der Bandscheiben auf die Nervenwurzeln drücken, so hat dies außer den Schmerzen eine Funktionseinschränkung zur Folge. Der Muskel wird nicht mehr richtig innerviert und führt somit zu einer Schwäche der Streckung des Beines. Außerdem wird die Reflexantwort so beeinträchtigt, dass sie abgeschwächt im Seitenvergleich mit der gesunden Seite ist. Der abgeschwächte Reflex zeigt die sogenannte „periphere“ Lähmung an. Der Ort der Läsion sitzt nicht im Zentralnervensystem (Gehirn oder Rückenmark), sondern im peripheren Nervensystem, hier im Bereich der Nervenwurzel. Sensibilität: Es gibt vier verschiedene sensible Qualitäten: Tast- und Berührungsempfinden, Druckempfinden, Lage der Extremitäten sowie Schmerz- und Temperaturempfinden. Die Oberfläche des menschlichen Körpers kann bezogen auf die Sensibilität in abgegrenzte Areale aufgeteilt werden. Dabei sieht diese Aufteilung der Oberfläche des Körpers in sensible Areale (Dermatome) jeweils anders aus, je nachdem ob eine Nervenwurzel oder ein Nerv im weiteren Verlauf geschädigt ist. Bei einer Schädigung des Nervus medianus erleidet man ein Taubheitsgefühl im Bereich der Innenhand zwischen Daumen und Zeigefinger (Medianusversorgungsgebiet). Wenn die Bandscheibe zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbelkörper auf die jeweilige Nervenwurzel drückt, erleidet man ein Taubheitsgefühl in dem entsprechenden Versorgungsgebiet, das von der Außenseite des Oberschenkels auf die Innenseite des Unterschenkels reicht. Koordination: Störungen der Koordination von Bewegungen können verschiedene Ursachen haben. Bei einer Funktionsstörung des Kleinhirns kann es zu einer sogenannten Ataxie kommen. Eine solche Bewegungsstörung verursacht einen über das Ziel hinausschießenden Bewegungsablauf. Man prüft dies zum Beispiel mittels Zeigeversuch (mit geschlossenen Augen den Zeigefinger in großem Bogen auf die Nasenspitze aufsetzen). Auch bei Sensibilitätsstörungen kommt es zu Beeinträchtigungen des Bewegungsablaufes. Alkoholismus und Diabetes sind häufige Ursachen einer sensiblen Neuropathie bei der es zu Störungen der peripheren Nervenfunktion, bevorzugt in den unteren Extremitäten mit Taubheitsgefühl, kommt. Da die Patienten den Boden nicht richtig spüren, gehen sie unsicher und breitbasig (Seemannsgang). Muskeltonus: Manche Erkrankungen (Multiple Sklerose, Morbus Parkinson) verursachen typische Veränderungen der Tonisierung der Muskulatur. Normalerweise lassen sich Gliedmaßen passiv ohne Widerstand bewegen, wenn die Patienten sich entspannen. Menschen mit einer Multiplen Sklerose zeigen häufig eine spastische Gangstörung (der Gang sieht staksig und ungelenk aus) und man kann den erhöhten Muskeltonus in den Beinen spüren, indem man das entspannte Bein des Patienten im Knie beugt und streckt. Dabei spürt man eine plötzliche Widerstandserhöhung bei der Bewegung, die nachlässt, wenn man die Kraftwirkung zurücknimmt. Ähnliches gilt für den sogenannten Rigor der Muskulatur bei der Parkinsonkrankheit. Ein für diese Erkrankung in diesem Zusammenhang charakteristisches Zeichen ist das sog. Zahnradphänomen. Meningismus: Die Nackensteifigkeit kommt durch eine Reizung der Hirnhäute zustande und zeigt sich vor allem in einer Schonhaltung der Patienten. Getestet wird dies durch verschiedene Manöver, die die Hirnhäute leicht dehnen (z. B. Vorbeugen des Kopfes). Allerdings ist die Untersuchung für Patienten mit einer Meningitis sehr schmerzhaft. Pyramidenbahn Pyramidenbahnzeichen: Die Pyramidenbahn besteht aus einem Bündel von Nervenzellfortsätzen, die von Stirnhirn bis zu den ersten Umschaltstellen im Rückenmark ununterbrochen durchlaufen. Diese Zellen sind so etwas wie ein Schrittmacher der willkürlichen Bewegungen. Der Name Pyramidenbahn stammt von einer Struktur im Hirnstamm (der pyramis), durch die die Pyramidenbahn hindurchläuft. Wenn dieses Nervenbündel an irgendeiner Stelle unterbrochen wird, kommt es zu einem typischen Funktionsausfall: einer spastischen Lähmung (Kraftminderung mit Muskeltonuserhöhung). Die Ursachen können völlig unterschiedlich sein: Eine Verletzung der Wirbelsäule und des Rückenmarkes, eine Durchblutungsstörung im Hirnstamm, eine Hirnblutung im Bereich der sogenannten Kapsel oder ein Tumor in der Großhirnrinde an der entsprechenden Stelle. Neben der Lähmung und der Muskeltonuserhöhung finden sich dann häufig sogenannte Pyramidenbahnzeichen. Man meint damit in erster Linie das Anheben (Dorsalextension) der großen Zehe beim Bestreichen der Fußsohle an ihrem Außenrand (Babinski-Reflex). Weitere Untersuchungsverfahren: Bei verschiedenen Erkrankungen werden besondere Untersuchungen durchgeführt. So kann man mit bestimmten Verfahren die Schweiß-Sekretion prüfen oder die Anpassung von Blutdruck und Puls bei Belastung. Nach Schlaganfällen prüft man die motorischen Funktionen der Sprache, wenn eine Dysarthrie vorliegt oder die grammatischen Funktionen der Sprache im Falle einer Aphasie. Störungen komplexer Bewegungsabläufe ohne Beeinträchtigung von Kraft und Empfinden nennen wir Apraxien (ein Beispiel wäre das Anziehen einer Jacke). Manche Patienten bemerken nach einem Schlaganfall ihr neu entstandenes Defizit nicht (Anosognosie). Manchmal tritt nach einem Schlaganfall ein Gesichtsfeldausfall ein, den die Patienten nicht bemerken. Das Nichtbemerken dieser Störung wird Neglect genannt. Für diese Phänomene gibt es besondere Untersuchungsverfahren. Ein weiteres besonderes Gebiet ist die neurologische Untersuchung von bewusstseinsgestörten Patienten und kleinen Kindern. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Untersuchungsmethoden, die hier kurz vorgestellt wurden und von denen nur eine unvollständige Auswahl gegeben werden konnte, für das Erkennen neurologischer Erkrankungen unersetzlich sind. Kein technisches Verfahren kann an die Stelle einer aufmerksamen Beobachtung und eines einfühlsamen Gesprächs sowie der vielen verschiedenen Manöver und Prüfungen treten. Das Ziel aller dieser Maßnahmen ist eine Diagnose und damit die Bestimmung, welche neurologische Erkrankung vorliegt.